Mi
11.6.25
19:30

Writing Identities
I will raise a hundred shores with you

Lesung
Gespräch
Poesiefestival Berlin 2025
silent green
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(c) Natalia Reich
(c) Taja Petric
(c) Bryan Kamaoli Kuwada

Im dritten Teil unserer Reihe Writing Identities werden wieder Dichter:innen aus unterschiedlichen Ländern präsentiert, die aus Geschlechterrollen ausbrechen und dafür eine innovative, radikale Sprache finden. In ihren Texten schaffen sie neue Ausdrucksmöglichkeiten für marginalisierte Perspektiven und Erfahrungen und hinterfragen gewohnte Muster, Repräsentations- und Inszenierungsweisen, Wahrnehmung und Deutungsmacht.

Ingo Jesen Vitman Öri ist eine wichtige neue Stimme in der slowenischen LGBTQ+-Gemeinde und Literaturszene. Sein Debüt Sin svoje roke (Škuc 2024) ist der erste Gedichtband einer Transperson in Slowenien. Der Titel, Sohn von eigener Hand, lässt sich deuten als Hinweis auf die Selbstermächtigung im Umgang mit der eigenen Geschlechtsidentität. Er schreibt über Namen, die Schmerz zufügen, außer, man gab sie sich selbst. Dem Versuch das eigene Geschlecht zu beschreiben, entspringt in einem der Gedichte eine Vielzahl von Bildern: „Ich bin: [....] so weiblich, wie ein Pilz eine Pflanze ist [...] eine Kappe, die einen Schirm haben sollte, aber keinen hat [...] der entsetzte Blick einer Dame im Bus ....“. Die Suchbewegung endet bei der Feststellung, nichts von alledem zu sein. Erzählt wird vom Herbeisehnen der geschlechtsangleichenden Eingriffe in den Körper, von Fragebögen beim Psychologen („Auf einer Skala von niemals bis immer, wie oft fühlst du dich wie: eine Frau, ein Mann, ein Hermaphrodit, ein unentwickeltes Kind, ein Ungeziefer, ein Fehler, eine Person?“). Öri huldigt der „Geschichte der Abweichung“, sein Buch ist eine Feier des ausgehaltenen Widerspruchs, der freiwilligen Diskrepanz: „wenn ich der Definition entfliehe zeichne ich mich endlich“.

„Here, queer-femme-rage is medicine“ („Hier ist die queere Femme-Wut reinste Medizin“), schreibt die Schriftsteller*in Angela Peñaredondo über die Gedichte von No'u Revilla (geboren in Waihee-Waiehu). In einer Poetik des kontinuierlichen Überschreitens ist alles immerzu auf dem Sprung, etwas anderes zu werden: Texte von Häutungen und Verpuppungen entstehen. Dabei wird ein hintergründiges und in seinen politischen Beweggründen sehr ernstes Spiel mit Vorstellungen aus der hawaiianischen Kultur getrieben. Das mythische Wesen Mo'o taucht wiederholt auf – ein reptilienartiger Gestaltenwandler („All lizards and shapeshifters, I belong to you“) – ebenso wie ʻŌhiʻa-Lehua, der hawaiianische Baum der Verwandlung. Es wimmelt von Trickstergottheiten, die autoritäre Systeme subversiv unterlaufen und ihrem nur scheinbar mächtigeren Gegenüber stets einen Schritt voraus sind. Außerdem wird das Konzept Ai-kāne aufgegriffen (eine Art spirituelle, gleichgeschlechtliche Intimität). „So sacred, so queer“ heißt eines der Gedichte in dem viel beachteten Band Ask the Brindled (Milkweed Editions 2022). Das Buch stellt eine tiefgreifende Erweiterung des zumindest in Europa vornehmlich männlich dominierten Verwandlungskanons dar (von Ovid über Dante bis hin zu Rilke).

Die amerikanische Lyrikerin Anne Boyer nannte die Gedichte von Verity Spott (geboren 1987 in Manchester) Zaubersprüche für nichts weniger als die vollständige Verwandlung der Welt. Für Spott ist der Körper selbst, sindalle Zuschreibungen von außen eminent politisch. Das Gedicht I never said that I was brave hebt an mit den Zeilen: “I never said I was a 'real woman' nor did I adhere to your distinctions—the broken knotted world of your categories and gibbets—your essential primacy.” („Ich habe nie behauptet, eine 'echte Frau' zu sein, noch habe ich mich an deine Unterscheidungen gehalten – die zerbrochene, verworrene Welt deiner Kategorien und Galgen – deine essentielle Überlegenheit.“) Später heißt es: „I did not give my consent to the idea of an opposite, to a world of stupefied duality.“ („Ich habe dem Konzept eines Gegenpols, einer Welt der erstarrten Dualität, nicht zugestimmt.“) Seit 2011 setzt Spott sich auf einem Blog mit Fragen der Geschlechtsidentität auseinander. Die Texte wurden 2017 gesammelt in dem Buch Prayers Manifestos Bravery (Pilot Press). In einem Interview bekannte Spott: „Ich habe keine feste Vorstellung mehr davon, was meine Geschlechtsidentität ist. Ich habe das Gefühl, viele Knoten gelöst zu haben, aber es tauchen immer neue auf. Geschlecht verwirrt mich. Es fühlt sich an wie ein System aus Umgrenzungen und Grenzen, das ständig darauf abzielt, nicht stabile Subjekte zu fassen.“ An diesem Abend liest Verity Spott das Langgedicht Went to Get the Sink Undrainer, ein atemloses Poem: “I cannot stop trying to send my tiny distracted thoughts towards you.”

Alle Gedichte der Veranstaltung wurden eigens für das Poesiefestival Berlin übersetzt.

Moderation: Lisa Jay Jeschke

Die Veranstaltung wird englisch-deutsch gedolmetscht. Mit freundlicher Unterstützung von ECHOO Konferenzdolmetschen
Gefördert durch: Slowenisches Kulturzentrum SKICA Berlin
Die Veranstaltung findet in der Kuppelhalle des silent green statt.